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Wahrnehmung und Normalität © Ergon Verlag GmbH 76 MAREN WEHRLE vacat © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 77 Intentionalität, Interesse, Affektion – Das Phänomen der Aufmerksamkeit als Umschlagstelle zwischen Aktivität und Passivität Maren Wehrle abstract How should we best describe the nature of subjective experience? Is it something we actively do or just something that passively happens to us? Husserl provides a wide range of concepts to grasp the character of experience, from explicit intentionality to passive forms of affection. On the one hand, one can find the static conception of consciousness of a specific object, on the other hand, there is the passive genesis of an object in terms of temporal and associative syntheses and pre-affective unities. But how do these poles relate to each other in situated everyday experience? To answer this question on the level of content and on the methodological level, one has to integrate the phenomenon of attention into the phenomenological description of experience. Attention manifests itself in the basic dimensions of perception as well as on higher levels of cognition. Husserl himself was concerned with this theme mainly in the context of static phenomenology. Although there are some genetic thoughts on this topic, Husserl never worked them out systematically. This article attempts to develop such a genetic concept of attention in order to highlight the continuity of passive and active, actual and inactual moments in experience. In this sense, attention is not only defined by an explicit thematic intention, but contains different genetic stages of subjective reference. At the same time it is surrounded and motivated by objective and habitual horizons. The nature of every subjective experience is therefore not only to be characterized as a formal temporal unity or an intentional structure. From the very beginning, experience necessarily has a concrete semantic preference, which amounts to the selective and integrative functions of attention. Die Welt, die jeweils für mich da ist, orginaliter, selbst erscheinend, und in erster Originalität in der Weise des Wahrnehmungsfeldes, ist für mich da als Interessenwelt, und die Weise ihres Für-mich-Seins ist jeweils die Weise, wie sie mich interessiert […].1 1. Einleitung Im Grunde genommen scheint jeder genau zu wissen, was Aufmerksamkeit ist. Es ist ein Phänomen, das uns alltäglich in der eigenen Erfahrung begegnet und dort als subjektive Leistung im Sinne einer willentlich vollzogenen Konzentration seinen Ausdruck findet. In der Psychologie wie in der Philosophie gilt Aufmerksamkeit als Ausdruck des selektiven Charakters der Wahrnehmung und des Vorstellens, der es erlaubt, sich mit gewissen Dingen ganz besonders zu beschäftigen, während andere mögliche Bewusstseinsinhalte zu diesem Zweck ausgeblendet werden können. Die vielzitierte und eingängige Definition des Psycholo1 Hua 39, 597. © Ergon Verlag GmbH 78 MAREN WEHRLE gen William James scheint bis heute nicht an Bedeutung verloren zu haben: „Every one knows what attention is. It is the taking possession of the mind, in clear and vivid form, of one out of what seems several simultaneously possible objects or trains of thought. […] It implies withdrawal from some things in order to deal effectively with others […].”2 Je nachdem, aus welcher Perspektive dieses selektive Geschehen betrachtet wird, besitzt das Phänomen der Aufmerksamkeit einmal eine hervorhebende und ein anderes Mal eine ausschließende Funktion. Dasjenige, was dank der Aufmerksamkeit in klarer und lebendiger Form vom Bewusstsein aufgenommen wird, steht dabei insbesondere im Bereich der Wahrnehmung in einer direkten Relation zu dem, was sich momentan nicht oder nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit befindet, ihrem Horizont. Sie geht insofern über das aktuell Gegebene hinaus, da sie sich auf den ‚ganzen‘ Gegenstand in seinem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang richtet, bleibt aber auch hinter diesem zurück, indem sie nur einen kleinen Teil des gegenständlichen Zusammenhangs thematisch macht. Aufmerksamkeit entpuppt sich insofern als genuin subjektives Phänomen, dessen präferentielle Tendenz sowohl mehr als auch weniger umfasst als das, was zu einem Zeitpunkt tatsächlich in unserem Wahrnehmungsfeld präsent ist. Für James liegt das Wesen der Aufmerksamkeit denn auch nicht nur in ihrer selektiven Funktion, sondern vor allem in ihrer apperzeptiven Kraft, welche unsere Wahrnehmung maßgeblich beeinflusst, indem sie sowohl Erwartungen generiert, die jeder konkreten Wahrnehmung vorausgehen, als auch das aktuell Gegebene durch Antizipationen ergänzt. Die Antizipationsleistungen, die der Aufmerksamkeit zugeschrieben werden, zeigen, dass aufmerksame Wahrnehmung weit mehr als nur Rezeption dessen ist, was in unserem Blickfeld liegt. Über ihren selektiven Charakter hinaus kommt der Aufmerksamkeit eine integrative Rolle zu, in der sie vergangene, gegenwärtige und zukünftige Wahrnehmungs-inhalte zu einer Erlebniseinheit verbindet. Demgegenüber wird bereits die Wahrnehmung durch gewisse ‚Interessen‘ gelenkt, die durch vorangegangene Erfahrungen motiviert sind. Aufmerksamkeit muss demnach von einer rein physiologischen Bestimmung der Wahrnehmung unterschieden werden und erweist sich für James als genuin psychologisches Problem, da sie nach subjektiven Kategorien bestimmt, was wir überhaupt ‚bewusst‘ sehen: „It is for this reason that men have no eyes but for those aspects of things which they have already been taught to discern.“3 Diese ‚subjektive‘ Seite der Aufmerksamkeit in Gestalt von Erwartungen und Interessen ist hierbei aufs engste mit ‚äußeren‘ Aspekten der Dingwahrnehmung verknüpft, da sich eine assoziative Verbindung zu zukünftigen Wahrnehmungen nur im Zusammenhang mit bereits erlebten äußeren Eindrücken herstellen lässt. 2 3 James, William: The principles of Psychology, Vol. 1, New York 1923, 403f. James, The principles of Psychology, Vol. 1, 443. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 79 Aufmerksamkeit als ein durch und durch subjektives Phänomen zu verstehen, heißt deshalb nicht, es mit einer willentlichen Aktivität gleichzusetzen. Bereits in der frühen Psychologie bei James treten die Schwierigkeiten zu Tage, die sich ergeben, wenn man eine strikte Differenzierung zwischen einer aktiven, willentlichen Lenkung und einer passiven, von äußeren Reizen bedingten Ausrichtung der Aufmerksamkeit vornehmen möchte.4 Der vorliegende Beitrag sieht daher in dem Phänomen der Aufmerksamkeit einen inhaltlichen und methodischen Umschlagspunkt, der zwischen Passivität und Aktivität, Aktualität und Inaktualität, Wahrnehmung und Denken, sowie statischer und genetischer Perspektive vermitteln kann. Unter Aufmerksamkeit wird in diesem Sinne nicht nur eine spezielle Form der Intentionalität oder ein personales Interesse verstanden, sondern diese ‚aktive‘ Dimension wird in einen umfassenderen Zusammenhang mit den ‚passiven‘ genetischen Konzepten der Leiblichkeit und der Affektivität gesetzt. Mit Husserl, aber zugleich über diesen hinaus, wird angenommen, dass auf den untersten Stufen der Erfahrung zusätzlich zu den formalen Bewusstseinsstrukturen eine konkrete subjektive Präferenz treten muss, die eine Differenzierung der Wahrnehmungsinhalte leistet, da sich anders eine kohärente Erfahrung nicht hinreichend erklären lässt. Die eidetische Bestimmung unserer grundlegenden Erfahrungsstrukturen und Bewusstseinssynthesen, die Husserl vornimmt, muss darum mit der materialen, d.h. konkreten Ebene der individuellen Erfahrung verbunden werden. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich einerseits die selektive und integrative Tendenz jeder Erfahrung und andererseits tritt die enge Verbindung der passiv-sinnlichen Wahrnehmung mit dem Bereich 4 Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Aufmerksamkeitsforschung der kognitiven Psychologie seit den 1950er Jahren. Auch hier wurde lange Zeit versucht, zwischen aktiven und passiven Aufmerksamkeitssystemen zu unterscheiden, oder die Aufmerksamkeit als entweder von ‚innen‘ (top-down) oder von ‚außen‘ (bottom-up) bedingt darzustellen. Vgl. Fernandez-Duque, Diego; Johnson, Mark L.: Cause and effect theories of attention: The role of conceptual metaphors, in: Review of General Psychology 6/2 (2002), 153-165. Die mentalen bzw. subjektiven Faktoren der Aufmerksamkeitslenkung müssen aber nicht unbedingt als Ausdruck von Aktivität angesehen werden. Einflüsse aus vergangener Wahrnehmung, sowie vor oder während eines Experiments kurz eingeblendete Inhalte, die dem Subjekt nicht explizit bewusst sind, können den weiteren Verlauf der Aufmerksamkeit indirekt beeinflussen. Andererseits kann der passive Einfluss sogenannter äußerer Faktoren nur im Kontext einer willentlich ausgeführten Aufmerksamkeitsaufgabe im Experiment überhaupt sichtbar bzw. messbar werden. Einen Überblick über die gegenwärtige Aufmerksamkeitsforschung der kognitiven Psychologie und Neurowissenschaft bieten z.B. Goldstein, Eugen B.; Irtel, Hans (Hrsg.): Wahrnehmungspsychologie, Berlin/Heidelberg 2008. Sowie: Styles, Elizabeth A.: The Psychology of attention, New York 2006. Einen Einblick in die Theorien und Metaphern seit den 1950er Jahren gibt Neumann, Odmar: Theorien der Aufmerksamkeit, in: Neumann, Odmar; Sanders, Andries F. (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Göttingen/Bern/Toronto/Seattle 1996. Für eine kritische Auseinandersetzung, siehe Mole, Christopher A.: Attention, in: Symons, John.; Calvo, Paco (Hrsg): The Routledge Companion to Philosophy of Psychology, London/New York 2009, 495-509. © Ergon Verlag GmbH 80 MAREN WEHRLE der personellen sowie kulturellen und gesellschaftlichen5 Interessen zu Tage. Da Aufmerksamkeit auf all diesen Ebenen wirksam ist, kann sie als Verbindungsglied zwischen sinnlich-leiblicher Erfahrung und höheren kognitiven Bereichen, Passivität und Aktivität sowie Individuum und Gesellschaft fungieren. In der Konsequenz gliedert sich die Argumentation des vorliegenden Beitrags wie folgt. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme darüber, welchen Stellenwert die Aufmerksamkeit in der statischen und genetischen Phänomenologie Husserls einnimmt (2), wird Aufmerksamkeit im ersten Hauptteil dann zunächst als Thema der statischen Phänomenologie untersucht (3). Um das Kriterium der Aufmerksamkeit in die Erfahrungsanalyse einzuführen, werden frühe Vorlesungen von 1904/1905 vorgestellt, in denen Husserl erstmals explizit das Thema Aufmerksamkeit aufgreift (3.1). Zusätzlich zur formal-eidetischen Bestimmung der Bewusstseinsstrukturen kommt hier ein Gefühlsmoment ins Spiel, das lediglich gegenüber gewissen Erfahrungsgehalten von Bedeutung ist: das Interesse. Schon hier wird deutlich, dass eine rein aktive Bestimmung der Aufmerksamkeit als explizite Form der Intentionalität zu kurz greift. Aufmerksamkeit definiert als Meinung und Interesse erweist sich als Phänomen zwischen Aktivität und Passivität, das die Grenzen einer statischen Perspektive aufzeigt (3.2). In einem zweiten Hauptteil werden deshalb systematisch die bei Husserl vernachlässigten Grundzüge einer möglichen genetischen Phänomenologie der Aufmerksamkeit erarbeitet, die zwischen passiven und aktiven Formen der Erfahrung vermitteln sollen (4). Die aktuelle thematische bzw. fokale Aufmerksamkeit steht dabei immer in Zusammenhang mit einem inaktuellen gegenständlichen Horizont, aus dem sich potentielle Affektionen generieren können. Die Affektion ist wiederum nur innerhalb eines übergreifenden Erfahrungs- und Handlungszusammenhangs zu verstehen, der seine Motivation und Typik aus dem habituellen Horizont eines Subjektes generiert. Dass die selektive Funktion der Aufmerksamkeit sich nicht auf den Bereich des personalen Interesses beschränkt, sondern bereits auf den passiven Ebenen der Erfahrung maßgeblich ist, sollen Husserls genetische Betrachtungen über das Interesse in Erfahrung und Urteil zeigen (4.1). Der Wirkungsbereich des Interesses umfasst hierbei unterschiedliche Ebenen, von der Passivität über die leibliche Erfahrung bis hin zur willentlichen Aktivität. Abschließend soll mit Hilfe später Texte zur Lebenswelt ein genetisches Stufenmodell der Aufmerksamkeit entwickelt werden, das von der passiven Vorgegebenheit bis hin zur aktiven Erfassung eines Gegenstandes reicht (4.2). Hierbei wird das enge Wechselverhältnis zwischen Affektion und expliziter Intentionalität sichtbar, die in der konkreten Erfahrung durch die Einheit eines Interesses verbunden sind. Aus der Perspektive des Aufmerksamkeitsphänomens erscheinen 5 Auf intersubjektive Interessen und Interessehorizonte im Sinne von Traditionen, Normen und der öffentlich-medial geprägten Meinung wird im Rahmen dieses Beitrags zwar nicht explizit eingegangen, trotzdem ist diese Dimension implizit mitgedacht. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 81 explizite Intentionalität und Affektion nun nicht mehr als zwei differente oder gar voneinander getrennte Bereiche, sondern als zwei Pole desselben Phänomens, die untereinender in einem Verhältnis der Kontinuität stehen. Abschließend soll gezeigt werden, dass der so erweiterte Aufmerksamkeitsbegriff notwendig zum Wesen jeder subjektiven Erfahrung gehört (5). Nicht nur der inhärente Selbstbezug des Bewusstseins ist als formale Bedingung der Erfahrung anzusehen, sondern darüber hinaus muss es eine minimale inhaltliche Präferenz geben, damit überhaupt von einer kohärenten Wahrnehmung und Erfahrung die Rede sein kann. 2. Der Stellenwert der Aufmerksamkeit in der Phänomenologie Für die Phänomenologie Husserls spielt die Aufmerksamkeit im Gegensatz zur psychologischen Auseinandersetzung mit diesem Thema, das zur selben Zeit den Anteil ‚mentaler‘ Leistungen innerhalb der Wahrnehmung in den Vordergrund rückte, zunächst keine große Rolle. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als jede Wahrnehmung aus phänomenologischer Sicht notwendig durch ‚subjektive‘ Bewusstseinsleistungen bedingt ist. Eine bloße Empfindung oder ein Sinnesdatum stellt noch kein wahrnehmbares Objekt dar; so etwas wie Gegenständlichkeit wird erst durch subjektive Auffassung gleistet. Nur in diesem Zusammenhang lässt sich von Intentionalität, d.h. Bewusstsein von etwas, sprechen. Da wir auf den ganzen Gegenstand gerichtet sind, dieser aber nur in einer bestimmten Perspektive gegeben ist, kann sich die jeweilige Auffassung darüber hinaus nicht auf das Empfindungsmaterial sowie das aktuell Präsente beschränken. Jede Wahrnehmung im eigentlichen Sinne hat infolgedessen eine apperzeptive Funktion, da sie in ihrem Sinn über das perzeptiv Gegebene hinaus geht. Das subjektive Element, das auch James als Kern der Aufmerksamkeit betont, gehört bei Husserl ohnehin zur Beschreibung der „normalen“ Wahrnehmung. Jede Wahrnehmung setzt eine spezifisch subjektive Zuwendung, d.h. Aufmerksamkeit in einem vagen Sinne voraus. Dies ist einer der Gründe, weshalb Husserl dem Phänomen der Aufmerksamkeit keinen eigenen Platz einräumt und zunächst nur als Modifikation der Wahrnehmung bestimmt.6 Das statische Konzept der Intentionalität, wonach sich ein Bewusstseinsakt auf genau ein Objekt bezieht, setzt somit eigentlich schon Aufmerksamkeit voraus, da 6 In den Logischen Untersuchungen wird Aufmerksamkeit noch nicht als eigenes Phänomen anerkannt und größtenteils mit Intentionalität gleichgesetzt. Erst in der 2004 edierten Vorlesung Wahrnehmung und Aufmerksamkeit von 1904/05 unterscheidet Husserl dezidiert zwischen bloßer Wahrnehmung und thematischer Aufmerksamkeit (vgl. Hua 38, 119). Aufmerksamkeit taucht in Gestalt des Interesses in der Logik Vorlesung von 1906/07 (Hua 24), den Vorlesungen zur Bedeutungslehre von 1908 (Hua 26) und in späteren Texten wie Erfahrung und Urteil sowie den 2008 erschienenen Manuskripten zur Lebenswelt (Hua 39) auf. © Ergon Verlag GmbH 82 MAREN WEHRLE das jeweilige Korrelat eines solchen Aktes auf einen zeitlichen und gegenständlichen Kontext verweist, aus dem es herausgehoben wurde. Den dabei beteiligten Aufmerksamkeitsaspekt der Intentionalität berücksichtigt Husserl erstmals systematisch in seinen Vorlesungen von 1904/1905 zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Das Konzept der Intentionalität wird in Bezug auf die Wahrnehmung erweitert, so dass es von einer bloßen gegenständlichen Auffassung bis hin zu einer speziellen Form der Intentionalität reicht, die Husserl nun „Meinung“ nennt. Zu einer solchen thematischen Intentionalität kommt außerdem ein gefühlsmäßiger Aspekt, das „Interesse“, hinzu, welches einerseits die Intensität ausdrückt, mit der wir uns einem Gegenstand zuwenden, und andererseits die Motivation und den Fortgang weiterer Intentionen verbürgen soll. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Aufmerksamkeit die Einbeziehung einer genetischen Perspektive sowohl einfordert als auch auf diese vorausdeutet. Noch bevor Husserl eine Differenzierung in noetische und noematische Momente des Bewusstseins vornimmt, zeigen sich in dieser frühen Vorlesung erste Ansätze für die Entwicklung einer solchen genetischen Phänomenologie. Die implizite genetische Tendenz dieser frühen Vorlesung hängt eng mit der Thematik der Aufmerksamkeit zusammen, die nicht nur formal, sondern auch inhaltlich auf eine subjektive Perspektive angewiesen ist. Da ein Ich-Pol in dieser Hinsicht nicht mehr als Ausgangspunkt der Akte genügt, stellt sich nun die Frage nach der Habitualität und den Interessen des Erfahrungssubjektes, d.h. nach der Motivationsgrundlage und dem zeitlichen Verlauf der Wahrnehmung. Gleichzeitig ergibt sich mit dieser subjektiven Differenzierung des momentanen Blickfeldes die Notwendigkeit einer räumlichen ebenso wie einer qualitativen Unterscheidung in Vorder- und Hintergrundbewusstsein bzw. aktuellem und inaktuellem Bewusstsein.7 In der genetischen Phänomenologie versucht Husserl, diesen passiven Sinnbildungen nachzugehen und die zeitliche und assoziative Struktur der subjektiven Wahrnehmung aufzuklären. Doch auch hier wird das Phänomen der Aufmerksamkeit noch nicht systematisch integriert. An einem Ende steht dagegen das Konzept der Affektion, das die passive Grundlage jeglicher Aktivität des Bewusstseins darstellt, und am anderen Ende die explizite Intentionalität. Welchen Stellenwert in diesem Zusammenhang das Interesse beansprucht, bleibt weitgehend unausgesprochen. In frühen Schriften taucht es als thematische Intentionalität oder begleitender Gefühlsaspekt der Intentionalität auf, in späteren Texten dagegen als allgemeine motivationale Struktur der Wahrnehmung sowie als inhaltliche Beschreibung des personellen bzw. intersubjektiven Horizontes. So unverbunden wie sich die beiden Pole Aktivität und Passivität gegenüberstehen, bleibt 7 Diese Differenzierung nimmt Husserl in den Ideen I im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsthematik vor und spricht an dieser Stelle von „Hintergrundsanschauungen“ (vgl. Hua 3/1, 71). © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 83 auch das Verhältnis der genetischen zur statischen Perspektive der Phänomenologie zunächst unklar. Im einen Fall hat man es mit der zeitlichen und inhaltlichen Dynamik des Gegebenen und somit auch mit dessen punktueller Unbestimmbarkeit zu tun, im anderen mit einem fertigen gegenständlichen Korrelat gemäß des Schemas von Inhalt und Auffassung8. Um das Zusammenspiel dieser beiden Ebenen besser in den Blick nehmen zu können, wird im vorliegenden Beitrag versucht Affektion und Interesse systematisch als zwei Seiten desselben Phänomens, der Aufmerksamkeit, zu verstehen, die sich wechselseitig beeinflussen. Die phänomenologische Beschreibung der Erfahrung wird so um den entscheidenden Aspekt der Aufmerksamkeit ergänzt, der inhaltlich ein Bindeglied zwischen passiven und aktiven Bewusstseinsformen darstellt und mit dem sich zugleich methodisch eine Brücke zwischen statischer und genetischer Untersuchungsebene schlagen lässt. Unter dem Titel einer statischen Konzeption von Aufmerksamkeit folgt nun zunächst eine Darstellung von Husserls frühen Texten zur Aufmerksamkeit. Hierbei soll aber bereits die Notwendigkeit einer genetischen Erweiterung des Aufmerksamkeitsbegriffes deutlich werden.9 8 9 Das betreffende theoretische Konstrukt dient Husserl dazu, den Strukturzusammenhang zwischen sinnlicher Materie einerseits und intentionalen Gegenständen andererseits aufzuzeigen. Gegenständlichkeit besteht demnach erst auf der Ebene der ‚beseelenden‘ Auffassung, d.h. wenn eine sogenannte Deutung des sinnlichen Stoffes durch das Subjekt erfolgt ist. Dieses Schema kann zwar erklären, warum dieselben Sinnesdaten, verschiedene Auffassungen erfahren können, lässt jedoch außer Acht, wie Gegenstände sich zeitlich und perspektivisch durch Abschattungen und Horizontintentionalität aufbauen. Vgl. hierzu Breyer, Thiemo: Inhalt/Auffassung, Artikel in: Gander, Hans-Helmuth (Hrsg.): HusserlLexikon, Darmstadt 2010, 151-153. Teile der im Folgenden behandelten Stellen aus Hua 38 und EU wurden von der Autorin bereits in Bezug auf die Frage nach der Relation von Aufmerksamkeit und Normativität in einem anderen Artikel besprochen. Gewisse Überschneidungen diesbezüglich waren daher nicht zu vermeiden. Vgl. Wehrle, Maren: Die Normativität der Erfahrung – Überlegungen zur Beziehung von Normalität und Aufmerksamkeit bei E. Husserl, in: Husserl Studies 26/2 (2010), DOI 10.1007/s10743-010-9075-5. © Ergon Verlag GmbH 84 MAREN WEHRLE 3. Aufmerksamkeit aus statischer Perspektive 3.1 Husserls frühe Überlegungen zur Aufmerksamkeit10: Meinung und Interesse In den Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit differenziert Husserl zwischen verschiedenen Stufen des Bewusstseins bzw. Bewussthabens von etwas. Hiermit geht eine Erweiterung des Intentionalitätskonzeptes einher, das nun sowohl die rudimentären Formen gegenständlicher Auffassung als auch den expliziten Bezug auf einen bestimmten Gegenstand umfasst. Die Unterscheidung in eine bloße gegenständliche Auffassung und einen thematischen Bezug zum Gegenstand ergibt sich im Kontext der Frage, ob es verschiedene Bewusstseinsqualitäten innerhalb der Wahrnehmung gibt. Steht etwas aktuell im Fokus des Bewusstseins, oder gehört es nur zum zwar gegenständlichen, aber unthematischen Blickfeld der Wahrnehmung? Zunächst muss eine grundlegende Ebene der vorgegenständlichen Empfindung angenommen werden, die einer gegenständlichen Auffassung gleichsam das ,Material‘ vorgibt. Diese dient jedoch als Grenzbegriff, da das Empfundene stets nur als Aufgefasstes zugänglich wird. Die Auffassung fungiert demnach als erste Stufe der Intentionalität.11 Die zweite Stufe ist durch eine spezielle Form der Intentionalität charakterisiert, die Husserl als Meinung bezeichnet. Sie hebt innerhalb eines gegenständlichen Zusammenhangs etwas besonders hervor und macht es thematisch.12 Sie kann sich somit auf eine bestimmte Seite eines Gegenstandes, aber auch auf mehrere Gegenstände beziehen, die durch diesen Akt der Meinung eine kollektive Bedeutung erlangen, d.h. zusammengemeint werden.13 10 11 12 13 Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf Husserls Darstellungen zur Aufmerksamkeit in Hua 38. Weitere frühe Stellen zum Thema finden sich z.B. in Hua 9/1, 142-170, Hua 3/1, § 35, und Hua 26, 18-22. In diesen Texten findet keine systematische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit statt. In Hua 26 kommt der Begriff des Interesses zwar vor, eine Unterscheidung zwischen bloßer Intentionalität (Auffassung) und einer speziellen Intentionalität (Meinung) findet sich aber nicht. Interesse wird als ein Aspekt des Gefühls angesehen, der sich im Unterschied zur neutralen Intentionalität durch seine Lebendigkeit und dem Engagement auszeichnet, mit dem man ‚bei den Dingen‘ ist. Zur Aufmerksamkeit in diesen frühen Texten vgl. Bégout, Bruce: Husserl and the phenomenology of attention, in: Boi, Luciano; Kerszberg, Pierre; Patras, Frédéric (Hrsg.): Rediscovering Phenomenology. Phenomenological Essays on Mathematical Beings, Physical reality, Perception and Consciousness, Dordrecht 2007, 13-33. Er unterscheidet zwei Faktoren der Aufmerksamkeit: den strukturellen (Intentionalität) und den thematischen Aspekt (Interesse). Diese Charakterisierung trifft ebenso auf die Beschreibungen in Hua 38 zu, die Bégout in seinem Artikel leider nicht berücksichtigt. Unabhängig davon teilt der vorliegende Beitrag die Annahme, dass die Dynamik des thematischen Aspekts in der genetischen Phänomenologie zunehmend ins Zentrum rückt und die formale Bestimmtheit der Aufmerksamkeit als Intentionalität an Bedeutung verliert. Vgl. Bégout, Husserl and the phenomenology of attention, 28. Vgl. Hua 38, 12. Vgl. Hua 38, 73. Vgl. Hua 38, 75. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 85 Die spezielle Intentionalität in Form des Meinens hat im Gegensatz zum bloß gegenständlichen Auffassen eine bevorzugende, abgrenzende, gestaltende und zugleich objektivierende Funktion. Diese explizite Form der Intentionalität bezeichnet Husserl denn auch als einen „merkwürdigen bevorzugenden und gestaltenden Faktor“14 der Wahrnehmung. Damit ist eine erste Unterscheidung zwischen Wahrnehmung im Sinne der Auffassung und Aufmerksamkeit als selektive und integrative Größe, die innerhalb eines gegenständlichen Zusammenhangs fungiert, getroffen. Aufmerksamkeit als Meinen von etwas sorgt demzufolge für eine Unterscheidung in das aktuelle Bemerkte und den unbemerkten Hintergrund. Die gesamte, zu einer gegebenen Zeit auffassbare Gegenständlichkeit ist dabei das „momentane Blickfeld“15, aus dem die Meinung etwas herausgreift. Als Ziel der meinenden Aufmerksamkeit benennt Husserl die klare und deutliche Gegebenheit des Gegenstandes, die durch eine genaue explizierende Betrachtung in einem Prozess von Intention und Erfüllung gewährleistet werden soll. Die heraushebende und objektivierende Funktion der Meinung stellt jedoch nur eine Seite des Phänomens Aufmerksamkeit dar: Sie ist zwar die formale und strukturelle Voraussetzung für jede konkrete Thematisierung des Gegebenen durch ein Subjekt, zu einem vollständigen Aufmerksamkeitserlebnis muss nach Husserl aber noch ein Gefühlsaspekt hinzu kommen, das jeweilige Interesse. Meinende Aufmerksamkeit kann demnach als „etwas Auszeichnendes in Beziehung auf einen wahrgenommenen Gegenstand“ definiert werden, dessen Funktion darin besteht, „unter der jeweiligen Mannigfaltigkeit präsenter Objekte gewissen einen Vorzug zu erteilen“16. Die jeweilige subjektive Präferenz macht nun durch ihre Bevorzugung aus vormals nur wahrnehmbaren Objekten, die sich in einem gegenständlich aufgefassten Zusammenhang befinden, explizite, d.h. „für sich wahrgenommene[ ] Objekte[ ]“17. Das Interesse erscheint in diesem Zusammenhang einerseits als Ausdruck einer konkreten subjektiven Beziehung zum Gegebenen und gewährleistet andererseits die Motivation und ‚Stabilisierung‘18 jeder speziellen Intentionalität. Interesse steht an dieser Stelle nicht nur für ein theoretisches Interesse, sondern für einen fundamentalen Aspekt der Wahrnehmung selbst, auch wenn Husserl sich hier zumeist erkenntnistheoretischer Metaphern zur Erläuterung des Phänomens bedient.19 14 15 16 17 18 19 Hua 38, 75. Vgl. Hua 38, 90f. Hua 38, 86. Hua 38, 86. Die Stabilisierung einer Intention durch ein bestimmtes Interesse ermöglicht die Konzentration auf eine Handlung oder einen Gegenstand über einen längeren Zeitraum, ohne das es zu Ablenkungen oder Langeweile kommt. Die Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit können als erste explizite Auseinandersetzung Husserls mit dem Phänomen der Wahrnehmung „unter Absehung von bedeutungstheoretischen oder logischen Fragestellungen“ (Giuliani, Regula; Vongehr, © Ergon Verlag GmbH 86 MAREN WEHRLE Für Husserl gilt zwar, dass das Interesse eidetisch in der gegenständlichen Wahrnehmung (Intentionalität) fundiert ist und infolgedessen selbst in die Kategorie der meinenden Erlebnisse gehört; gleichzeitig nimmt es aber aus genetischer Hinsicht eine primäre Rolle ein, indem es den Wahrnehmungsverlauf vorantreibt und so „Schritt für Schritt“20 zu neuen Wahrnehmungen führt. Das Interesse hat in diesem Kontext eine völlig andere Grundlage als die Meinung, da seine eigentlichen „Motoren und Quellen“21 die Gefühle sind. Das Ziel der Intentionalität im Sinne des Interesses orientiert sich nicht am Maßstab der jeweiligen Erfüllung oder Klarheit des Intendierten, sondern bestimmt sich anhand des Grades der beteiligten gefühlsmäßigen Intensität. Durch seine direkte Fundierung in den Gefühlen erzeugt das Interesse ein Verhältnis von Intention und Erfüllung, das sich in der konkreten Erfahrung in einem Rhythmus von Spannung und Lösung ausdrückt. Husserl schreibt der Intentionalität an dieser Stelle zum ersten Mal eine genetische Dynamik sowie einen ‚Lustaspekt‘ zu, der auf das spätere Konzept der Triebintentionalität vorausdeutet. Doch nicht nur die Lust, sondern auch andere Gefühle wie Ekel oder Angst können sich an den Verlauf des Interesses knüpfen. Welche Art von Gefühl dies ist, spielt für die grundlegende Funktion des Interesses keine Rolle: „Jedes an die interessanten Sachen geknüpfte Gefühl hebt die Intensität des Interesses.“22. Husserl spricht darüber hinaus von einer generellen Lust am Aufmerken, die dazu beiträgt, den Fortgang der Wahrnehmung zu motivieren und neue Intentionen zu erregen. Dieser gefühlsbedingte Motor der Wahrnehmung wird nach Husserl aber nicht primär durch die ‚Sachen‘ angeregt. Im Gegenteil, der Lustaspekt der Aufmerksamkeit besteht für Husserl in der Lust des Bemerkens selbst: „Lust an dem Rhythmus des sich spannenden und zugleich lösenden Interesses [...], eine Lust (an dem Fortgang) des Aufmerkens“23. Das Interesse erscheint bereits an dieser Stelle als notwendiger passiver Antrieb des Wahrnehmungsverlaufs, auch wenn Husserl diesen psychologischen Aspekt lediglich im Kontext eines Erkenntnisstrebens verortet: „Es ist ein Motor für mein Begehren nach Erkenntnis, es veranlasst mich zur näheren Inbetrachtnahme des Gegenstandes, zur Beschäftigung neuer Wahrnehmung, die neue Teilseiten desselben zur eigentlichen Wahrnehmung bringen.“24 Der hier eingeführte Begriff des Interesses ist 20 21 22 23 24 Thomas: Einleitung der Herausgeber, in: Hua 38, XXIII) gelten. Der Begriff Interesse wird infolgedessen nicht in einem theoretischen Sinne gebraucht, wie Husserl in Abgrenzung zum Begriff des theoretischen Interesses von Carl Stumpf ausdrücklich betont (vgl. Hua 38, 103). Trotzdem lässt sich in Husserls Beschreibungen und Beispielen sein eigenes erkenntnistheoretisches Interesse erkennen: Das Interesse soll vor allem das Bemerken fördern und das richtige Erkennen der Dinge vorantreiben (vgl. Hua 38, 110, 118). Hua 38, 108. Hua 38, 108. Hua 38, 107. Hua 38, 108. Hua 38, 118. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 87 somit einerseits als Gemütsakt definiert und drückt sich in Akten des Wollens, Wünschens oder Erwartens aus, andererseits geht seine Wirkkraft weit über diesen Bereich hinaus: Da jede Intentionalität notwendig von einem Interesse begleitet sein muss, kann es im obigen Sinne auch als der Wahrnehmung inhärentes dynamisches Streben verstanden werden. Unter Hinzunahme des Interesses erweist sich die vormals nur formal bestimmte Intentionalität auch als inhaltlich motivierte Dimension. Im Gegensatz zur Meinung, als dessen intentionales Ziel die klare und deutliche Gegebenheit des Gegenstandes formuliert wurde, weicht die Funktion des Interesses von diesem generellen Telos teilweise ab. Dies liegt daran, dass die Intensität der Wahrnehmung nicht bei schon erfüllten bzw. „gesättigten“25 gegenständlichen Momenten am größten ist, sondern sich gerade durch das Fehlen und Vermissen einer Sache auszeichnet. Das Interesse strebt vordergründig nach der Erfüllung eines empfundenen Mangels und ist somit nicht nur mit dem aktuell Präsenten beschäftigt, sondern immer schon auf weitere potentielle intentionale Inhalte aus, die sich dem Wahrnehmen „neu darbieten sollen“26. Zu Beginn überwiegt diese „Intensität der nächsterregten Intentionen“27, während im weiteren Verlauf der Wahrnehmung die Intensität der Erfüllungen der betreffenden Intentionen einen größeren Raum einnimmt. So wird das Interesse besonders durch das Neue und Zukünftige angezogen, ein Umstand, der dazu führen kann, dass das Interesse nach einer „allseitigen und erschöpfenden Betrachtung“28 eines Gegenstandes auch abnehmen kann: „Sind die Wahrnehmungszusammenhänge öfters durchlaufen und uns jede Einzelheit vertraut geworden, so ‚verliert die Sache an Interesse‘, sie wird langweilig.“29 Statt einer adäquaten Wahrnehmung, die von Husserl als ideales Ziel der Aufmerksamkeit bestimmt wird, kann es durch das Interesse zu einem „Wettstreit um das Bemerken“30 kommen. Das Interesse ist somit zwar eine das Bemerken fördernde Kraft, die zu einer ‚besseren‘ Wahrnehmung beiträgt, kann aber zugleich dieser teleologischen Ausrichtung zuwider laufen, da das allzu Bekannte die Intensität mindert und sich so neuen Eindrücken hingibt. Die Verbesserung der Wahrnehmung durch die Aufmerksamkeit erweist sich unter diesen Umständen nicht als allgemeines regulatives Ideal der adäquaten Gegebenheit eines Gegenstandes, sondern vielmehr als relatives Optimum, das sich in Bezug auf die jeweiligen Handlungen und Interessen des konkreten Subjektes ergibt.31 Bewusstsein 25 26 27 28 29 30 31 Hua 38, 107. Hua 38, 107. Hua 38, 107. Hua 38, 108. Hua 38, 108. Hua 38, 108. Vgl. etwa Hua 39, 204; Hua 11, 23f. In Bezug auf die konstitutive Rolle, die Normalitätskriterien wie Einstimmigkeit und relative bzw. absolute Optimalität innerhalb der Erfah- © Ergon Verlag GmbH 88 MAREN WEHRLE ist also nicht einfach Bewusstsein von etwas, sondern von etwas Bestimmtem, Intentionalität kann deshalb ohne die Differenzierung des Bewusstseinsfeldes und d.h., ohne konkrete subjektive Präferenzen, nicht stattfinden. Wahrnehmung gänzlich ohne Interesse wäre nicht denkbar, weil es nach Husserl „nie an Motiven der Bevorzugung fehlen kann“32. Im Phänomen der Aufmerksamkeit, insbesondere in Form des Interesses, zeigt sich an dieser Stelle ebenfalls die zeitliche und horizontale Struktur jeder Wahrnehmung. In der diesbezüglichen Beschreibung lassen sich die Wurzeln der später ausgearbeiteten Horizontintentionalität erkennen. Bevor man Bewusstsein von etwas, d.h. einem ganzen Gegenstand, haben kann, müssen demnach verschiedene zeitliche und assoziative Syntheseleistungen vorangehen. Durch die Einheit eines Gesamtinteresses wird in diesem Kontext ein individueller und inhaltlicher Zusammenhang des Gegebenen hergestellt. Obwohl Husserl in dieser Vorlesung die eidetische Vorrangstellung von Gegenständlichkeit und Intentionalität gegenüber dem Interesse betont und eine statische Beschreibung beider Komponenten anstrebt, stößt er man wiederholt auf die Schwierigkeit, Interesse und Meinung im Erfahrungsverlauf auseinanderhalten zu müssen. Eine solche statische bzw. funktionale33 Trennung ist demnach nur nachträglich in der Deskription durchführbar. In der Erfahrung treten Meinung und Interesse dagegen „Hand in Hand“34 auf und sind gleichermaßen konstitutiv für das Phänomen der Aufmerksamkeit.35 Beide haben daher „einen gewissen Rechtsanspruch darauf, Aufmerksamkeit zu heißen“36. Sie bilden eine „praktische Einheit“, indem sie verbinden, was „erfahrungsmäßig zusammen auftritt“37. In der Deskription erweist sich die Meinung allerdings gegenüber dem Interesse als vorrangig: Sie wird als abgrenzender Akt definiert, in dem das Gemeinte zugleich das aktuell Bemerkte darstellt. Das Interesse setzt somit logisch die Meinung als Möglichkeit eines „Für-sich-Vorstellen[s]“38 des Gegenstandes voraus. Während die Meinung als eigentlich objektivierender Akt gilt, stellt das Interesse lediglich eine gefühlsmäßige Begleiterscheinung dieses Aktes dar. Demgegenüber kann die Funktion der Meinung weder eine Gefühlsbasis vorweisen, noch mit dem Maßstab der Intensität gemessen werden. Das pure ‚Herausheben‘ eines Gegenstandes 32 33 34 35 36 37 38 rung spielen, siehe Steinbock, Anthony J.: Phenomenological concepts of normality and abnormality, in: Man and World 28 (1995), 241-260. Hua 38, 108. Mit funktional ist hier lediglich gemeint, dass man Meinung und Interesse hinsichtlich ihrer Funktionen in der Wahrnehmung unterscheiden kann. Diese lassen sich aber nur statisch, d.h. in Abstraktion von den konkreten zeitlichen Wahrnehmungsverläufen bestimmen. Hua 38, 119. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von einer gegenseitigen Beeinflussung in Form eines „Wirkkreises“ (Hua 38, 119). Hua 38, 116. Hua 38, 116. Hua 38, 118. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 89 kennt in diesem Sinne kein Mehr oder Minder – ein Gegenstand ist entweder explizit herausgehoben, oder er ist es nicht: „[V]on einem brennenden Interesse sprechen wir oft genug, von einer brennenden Meinung zu reden, gibt keinen Sinn“39. Wie wir einem Gegenstand zugewendet sind, z.B. mit intensiver Konzentration oder gähnender Langeweile, ist dabei vom „mitverflochtenen Interesses“40 abhängig. Für Husserl gewährleistet daher die Struktur der speziellen Intentionalität, das überhaupt etwas zum Gegenstand der Aufmerksamkeit werden kann, während das Interesse für das Wie, die Intensität, der Wahrnehmung zuständig ist. Allerdings ist nicht nur jeder intentionale Akt auf ein begleitendes Interesse angewiesen, sondern ebenfalls auf eine Art habituellen Interessenshorizont, der diese Zuwendung allererst motiviert. Im zweiten Falle würde das Interesse als Motivationsgrund 41 dem aktuellen Aufmerksamkeitsgeschehen aber aus einer genetischen Perspektive vorangehen. Auf der einen Seite betont Husserl, dass es die Struktur der Meinung ist, die das Herausheben und Thematisch-machen eines Gegenstandes ermöglicht. Auf der anderen Seite kommt eine solche neutrale Heraushebung in der alltäglichen Erfahrung nicht vor. Wie der Begriff Bevorzugung suggeriert, wird hier implizit ein individueller subjektiver Standpunkt eingenommen. Wenn es die Leistung der speziellen Intentionalität ist, aus einem bloß wahrnehmbaren gegenständlichen Zusammenhang, einen „Gegenstand für uns“ zu machen oder verschiedene unverbundene Objekte zu einem intentionalen Thema zu integrieren, dann muss dieser Zusammenhang nicht nur formal, sondern jeweils auch inhaltlich bestimmt sein. Durch das Interesse entsteht in der Wahrnehmung nicht nur eine gegenständliche, sondern auch eine subjektiv gelebte und zeitliche Einheit. Sie konstituiert für uns aus einem gegenständlichen Zusammenhang, wie Husserl später sagen wird, eine Lebenswelt42. Parallel dazu generiert sich aus den intentionalen Aufmerksamkeitsbeziehungen so etwas wie ein einheitlicher habitueller Stil, der als Vorstufe einer personalen Identität gelten könnte. 39 40 41 42 Hua 38, 118. Hua 38, 118. Hier lässt sich eine Erweiterung der Intentionalität als Motivationsverhältnis erkennen, die Bernhard Rang in Bezug auf die Ideen I feststellt. Dementsprechend kann Intentionalität, die auf eine Interessenseinheit angewiesen ist, hier ebenfalls als ein „Verhalten zu…“ interpretiert werden, wie Rang dies tut. Verhalten meint hierbei sowohl „sinnbestimmtes als auch sinnbestimmendes, motiviertes und motivierendes“ Verhalten (Rang, Bernhard: Kausalität und Motivation. Untersuchungen zum Verhältnis von Perspektivität und Objektivität in der Phänomenologie Edmund Husserls, Den Haag 1973, 127). Hier zunächst in dem einfachen Sinn, dass durch den gelebten subjektiven Bezug aus einem bloß gegenständlichen Zusammenhang eine Welt wird, in der wir leben und auf die wir selektiv bezogen sind. © Ergon Verlag GmbH 90 MAREN WEHRLE 3.2 Das Phänomen der Aufmerksamkeit zwischen Aktivität und Passivität Obwohl in den Vorlesungen von 1904/05 Aufmerksamkeit nur als Erlebnis thematisiert wird und dessen habituelle Motivationsgrundlage weitgehend außen vor bleibt, wird dennoch die Notwendigkeit einer genetischen Ergänzung deutlich. Warum ziehen manche Gegenstände oder Ereignisse unsere Aufmerksamkeit auf sich und treten damit aus dem Hintergrund in den Fokus der Aufmerksamkeit? In Bezug auf Fragen solcher Art könnten sowohl die habituell geprägten Wahrnehmungs- und Handlungsintentionen des leiblichen Subjekts als auch der gegenständliche Horizont des Bemerkten Aufschluss geben. Das eine bezieht sich auf die subjektive Erfahrungsgeschichte, z.B. in Form vorangegangener Wahrnehmungen und habitueller Verhaltensmuster, das andere auf den potentiellen Gegenstandsbereich zukünftiger Wahrnehmungen. Die erwähnten Fragen tauchen in dieser frühen Auseinandersetzung Husserls mit dem Phänomen Aufmerksamkeit nur am Rande auf. Dies erklärt sich dadurch, dass er die Funktion der Aufmerksamkeit erkenntnistheoretisch bestimmt: Ihr Ziel ist die optimale Wahrnehmung eines Gegenstandes: „das Zu-adäquater-Wahrnehmung-Kommen“43. Aufmerksamkeit im Sinne Husserls ist somit hauptsächlich als kontinuierliche Beschäftigung mit einem Gegenstand definiert. Flüchtige und plötzliche „Einbrüche“ innerhalb der Wahrnehmung, wie z.B. ein lautes Geräusch, ziehen zwar unsere Aufmerksamkeit auf sich, unterbrechen aber lediglich ein schon bestehendes thematisches Interesse. Ein solcher Aufmerksamkeitswechsel verhindert zwar einerseits das adäquate Wahrnehmen eines einzelnen Gegenstandes, andererseits motiviert er weitere Intentionen und Erlebnisse. Dies bietet dem Erfahrungssubjekt im Gegensatz zu einer erschöpfenden Kenntnis eines bestimmten Themas, einen ganz anderen Vorteil, nämlich den der schnellen Orientierung innerhalb der Umgebung und einer Anpassung an die sich ständig verändernde Umwelt. Auch bei Husserl ist es gerade die Unmöglichkeit einer vollständigen Bestimmung des Wahrnehmungsgegenstandes, die die Wahrnehmung als fortwährenden Bestimmungs- und Identifikationsprozess in Gang hält. Eine vollständige Bestimmung des Gegenstandes würde dagegen das Ende jeglicher Wahrnehmungsverläufe bedeuten, da von ihm keine neuen Intentionen (oder Affektionen) mehr ausgehen könnten. Schon in den Ausführungen von 1904/05 zeigt sich eine Ambivalenz zwischen der Bestimmung der Aufmerksamkeit als aktiver Bevorzugung des Bewusstseins und passiver Motivation.44 Das Interesse erweist sich hierbei als doppeldeutig, einerseits besteht durch seine inhärente Ausrichtung auf das Neue ständig die 43 44 Hua 38, 110. Meinung kann in diesem Sinne sowohl als passive Bewusstseinsstruktur verstanden werden, die es uns ermöglicht, überhaupt etwas ‚für sich genommen‘ zur Anschauung zu bringen, als auch als aktiver, expliziter Akt des Herausgreifens. Ähnliches gilt für das Interesse, das einerseits als aktiv selektierende Funktion angesehen werden könnte, andererseits als habitueller Faktor die Wahrnehmung implizit zu lenken vermag. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 91 Gefahr einer Unterbrechung bzw. eines Aufmerksamkeitswechsels. Andererseits kann es aber auch als eine Art habitueller Horizont verstanden werden, der eine gewisse Beständigkeit im Wahrnehmungsverhalten des Subjekts gewährleistet, die man als individuelles Aufmerksamkeitsprofi45l bezeichnen könnte. Dies deutet sich insbesondere in den späteren Texten Husserls an, die im nächsten Punkt behandelt werden. In dieser frühen Untersuchung wird Aufmerksamkeit dagegen hauptsächlich in statischer Weise als eine Art mentaler Scheinwerfer charakterisiert, der bereits vorhandene Gegenstände heraushebt, um sie besser wahrzunehmen. Zugleich bemerkt Husserl aber, dass dieser Prozess der Näherbestimmung auf eine Gefühlsbasis angewiesen ist, ein allumspannendes Interesse, das diese Intentionalität motiviert und stabilisiert. Da das Interesse aber auf die größtmögliche Intensität abzielt ist und so vor allem auf Neues bzw. Relevantes ausgerichtet ist, das noch nicht aktuell vorliegt, sondern sich im tätigen und zeitlichen Verlauf der subjektiven Wahrnehmung erst zeigt, bleibt die Wahrnehmung fragil und wechselhaft: Es kommt zum Wettstreit der Reize um Aufmerksamkeit. Der Wechsel der Aufmerksamkeit rückt die Horizonte, den Hintergrund des Bemerkten ins Licht der Untersuchung, also das, was potentiell zum Thema der Aufmerksamkeit werden kann und die konkreten Voraussetzungen des jeweiligen Aktes darstellt. Im Folgenden wird nun versucht, diese Aspekte mit Hilfe von Husserls späten Texten zur passiven Vorgegebenheit, Affektion und leiblichem Interesse in ein umfassenderes Konzept der Aufmerksamkeit zu integrieren. Hierfür wird zunächst ein genetisches Stufenmodell der noetischen Aufmerksamkeitsformen ausgearbeitet, welches die passiven Bereiche der Assoziation und Rezeption mit den aktiven und expliziten Formen der Intentionalität verbindet. Parallel dazu werden im nächsten Punkt verschiedene Aufmerksamkeitshorizonte unterschieden. Abschließend soll das Zusammenspiel von Affektion, Interesse und Intentionalität in der alltäglichen Erfahrung diskutiert werden. 4. Aufmerksamkeit aus genetischer Perspektive 4.1. Die genetischen Stufen der Aufmerksamkeit und das Interesse Wurde der Begriff der Aufmerksamkeit von Husserl noch in den Ideen I zur Unterscheidung in eine primäre und sekundäre Wahrnehmung gebraucht, in der er als „Blickstrahl des reinen Ich“46 aus einem sekundär, d.h. überhaupt oder nur nebenbei bewussten Objekt, ein primär und aktuell erfasstes Thema macht, findet er in den späteren phänomenologischen Untersuchungen kaum mehr Ver- 45 46 Dies wäre von einem affektiven Relief zu unterscheiden, das sich nur durch allgemeine strukturelle Faktoren bestimmt. Hua 3/1, 211. © Ergon Verlag GmbH 92 MAREN WEHRLE wendung. Eine Ausnahme bildet dabei das von L. Landgrebe herausgegebene Werk Erfahrung und Urteil, in dem die Aufmerksamkeit insbesondere in Form eines genetisch gewandelten Begriffes des Interesses auftaucht. Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang als eine „Ichtendenz“ bzw. ein „Tendieren des Ich auf den intentionalen Gegenstand hin“ verstanden, das zur Wesensstruktur jedes „Ichaktes“ gehört47. Das Ausmaß dieser Tendenz zur Hingabe und Erfassung des Gegebenen hängt von der Stärke der jeweiligen Affektion ab. Der Affektion wird insofern ein genetischer Vorrang eingeräumt, als zunächst das Gegebene einen „Zug“ auf das Ich ausüben muss. Jedoch steht diesem zeitgleich die Tendenz des Ich zur „Hingabe“ gegenüber.48 Eine strikte Unterscheidung zwischen bloßer Affektion und expliziter Aufmerksamkeit ist an dieser Stelle deshalb nur schwer möglich. Der Übergang von der passiven Affektion über das tatsächliche Affiziertsein des Ich bis hin zu seiner aktiven Zuwendung lässt sich allenfalls graduell bestimmen. Mit der aktuellen Zuwendung des Ichs vollzieht sich dabei zugleich eine Unterteilung in das momentane Vordergrunderlebnis und das inaktuelle Hintergrunderlebnis, vom dem gegebenenfalls ein affektiver Reiz auf das Ich ausgehen kann. Wiederum ist es die Intensität der jeweiligen Zuwendung, die hier den Unterschied macht: Während das Ich im Vordergrunderlebnis „in tätiger Weise“ regelrecht „in“ dem Erlebnis „lebt“ und sich aktiv mit der intentionalen Gegenständlichkeit „beschäftigt“, ist dies beim Hintergrunderlebnis nicht der Fall.49 Anhand der oben skizzierten Wahrnehmungsanalysen ließe sich bereits ein erweiterter Begriff von Aufmerksamkeit festmachen. Dieser genetische Begriff der Aufmerksamkeit würde verschiedene Stufen der Ichzuwendung umfassen, die zwar einerseits das Gegebene aktiv strukturieren, aber andererseits von passiven und inaktuellen Bereichen umgeben und motiviert sind. Zu unterscheiden wäre hierbei zwischen zwei Ebenen: dem Hintergrund während einer aktuellen Zuwendung und dem Hintergrund, der genetisch bzw. zeitlich vor einer solchen Zuwendung verortet wird.50 Das Interesse nimmt in diesem Kontext die Rolle der konkret „erfahrenden Ichtendenz“51 ein und ist vor allem durch seine praktische Orientierung charakterisiert. Im Gegensatz zu seiner früheren Bestimmung wird es nun nicht mehr als Gefühlsaspekt definiert, der zur gegenständlichen Auffassung hinzukommt, sondern als wesentlicher Bestandteil jeder Intentionalität anerkannt. Als praktische Ichtendenz bezieht sich das Interesse nicht mehr nur statisch auf einen bestimmten 47 48 49 50 51 EU, 85. Vgl. EU, 82. Vgl. EU, 85-86. Dies entspräche der Unterscheidung in einen noematischen (gegenständlichen) Horizont, der den Bezug des aktuell Gegebenen auf das Mitgegebene umfasst, und einen noetischen (habituellen) Horizont, der den Bezug des gebenden Aktes auf frühere Akte thematisiert. EU, 86. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 93 Gegenstand, sondern trägt zur Gegenstandskonstitution selbst bei, indem es als kontinuierliches und verwirklichendes Streben die Horizonte des Gegebenen aufdeckt und somit weitere Wahrnehmungen motiviert. Mit der Zuwendung zum Gegenstand ist nach Husserl „ein Interesse am Wahrnehmungsgegenstand als seiendem erwacht“52, das eine kontinuierliche Gerichtetheit auf diesen ermöglicht und somit für die Erfahrung der zeitlichen und inhaltlichen Einstimmigkeit der Wahrnehmungserscheinungen unverzichtbar ist. Gleichzeitig geht es seinem Wesen nach über das aktuell Gegebene hinaus und tendiert somit zu neuen Erlebnissen. Dem Interesse wird der Status einer Grundvoraussetzung für jede konkrete Erfahrung zugesprochen, da es den subjektiven Bezug zum Gegebenen erst motiviert und vorantreibt, indem es weitere Horizonte „weckt“ und kinästhetisch verwirklicht.53 In diesem Kontext erscheint Aufmerksamkeit als Bestandteil einer erweiterten Intentionalitätskonzeption, die um die genetischen Konzepte der Leiblichkeit und des Horizontes ergänzt wurde. Zwar wurde bereits der Aufmerksamkeit in ihrer statischen Form als Meinung und Interesse eine konstitutive Funktion zuerkannt, in dem sie dazu verhalf den Gegenstand näher in Betracht zu nehmen. Dabei wurde aber der Gegenstand aus seinem äußeren, d.h. zeitlichen und räumlichen, Horizont regelrecht herausgenommen, um in einer expliziten visuellen ‚Inspektion‘ unterziehen zu können. Wohingegen eine genetische Aufmerksamkeit den Horizont nicht nur im Rahmen eines visuellen Scheinwerfers versteht, der sich auf einen bestimmten Gegenstand richtet, sondern die Horizonthaftigkeit des Wahrnehmungsverlaufs im Ganzen zum Thema macht, indem sie zeitliche, kinästhetische und habituelle Aspekte mit ein bezieht. Der Wirkbereich des Interesses wird so nicht mehr auf eine explizite intentionale Handlung reduziert, sondern umfasst sämtliche Bereiche von Passivität und Aktivität. Darüber hinaus nimmt Husserl eine graduelle Differenzierung verschiedener Bewusstseinsstufen vor. Als primäre Form der Zuwendung gilt das oben dargestellte kinästhetisch verwirklichende Streben. Dieses leibliche Interesse kann dann auf einer höheren Stufe auch die Form eines „Willens zur Erkenntnis“54 annehmen. Zusätzlich unterscheidet Husserl zwischen einem „vorichlichen“ und „ichlichen Tun“55. Das Tun vor der Ich-zuwendung ist durch eine kinästhetischleibliche Zuwendung gekennzeichnet, die sich anhand rein apperzeptiver Verläufe charakterisieren lässt, z.B. in Form von gerichteten Augenbewegungen. Eine Zuwendung ‚mit Ich‘ ist dagegen zwar explizit bewusst, muss aber keine vollständig willkürliche Handlung darstellen. So bewegt man mitunter unwillkürlich die Augen, während man einem Gegenstand aufmerksam zugewendet ist.56 52 53 54 55 56 EU, 87. Vgl. EU, 87. EU, 92. EU, 90f. Vgl. EU, 91. © Ergon Verlag GmbH 94 MAREN WEHRLE An dieser Stelle wird die Schwierigkeit einer einfachen Unterscheidung in passive und aktive Vorgänge ersichtlich, da diese sich als durchaus missverständlich erweisen kann. So ließe sich eine Form der leiblichen Aufmerksamkeit in obigem Sinne einmal als aktiv kategorisieren, da sie sich durch Bewegung, Streben und eine bestimmte Form der Wachsamkeit auszeichnet, gleichzeitig kann sie im Vergleich zu expliziten geistigen Tätigkeiten als passiv beschrieben werden, da weder ihre Motivation noch ihre gegenständlichen Inhalte im Einzelnen explizit bewusst sind. Leiblich orientierte Aufmerksamkeit zeichnet sich dennoch durch ihr Tun bzw. ein gewisses grundlegendes kinästhetisches Engagement in der jeweiligen Situation aus. Dieses „vorichliche Tun“ tritt aber in der alltäglichen Erfahrung außer in speziellen Grenzfällen nicht isoliert auf und muss daher eher als ein „nebenichliches Tun“ aufgefasst werden, das wie in obigem Beispiel mit der Ausführung einer expliziten Zuwendung aufs engste verwoben ist. Gleiches gilt für die eigentlich fundierende Dimension der Passivität bei Husserl, die sich aus den grundlegenden passiven Synthesen der Zeitlichkeit und der Assoziation zusammensetzt; auch sie sind nur durch ihre impliziten Anteile an der anschaulichen und beschreibbaren Erfahrung thematisch zugänglich. In Anbetracht der von Husserl vorgenommenen Unterscheidungen könnte man darüber hinaus noetisch zwischen den passiven Grundstrukturen, dem aktuellen leiblichen Engagement57 bzw. der fungierenden Intentionalität, der thematischen Aufmerksamkeit, die sich explizit auf ein bestimmtes Objekt richtet, und der Reflexion unterscheiden, die sich als zusätzlicher (nachträglicher) Akt sowohl auf das Objekt und seine Umstände als auch auf seine subjektive Gegebenheitsweise bezieht. Außerdem müsste gegenüber einer punktuellen Reflexion besonders die phänomenologische Epoché als Einstellungswechsel hervorgehoben werden, der beständig aufrechterhalten werden muss, damit die sonst nur vorübergehende Ichspaltung der Reflexion eine habituelle Geltung erreicht.58 Einen ersten Schritt in diese Richtung geht Husserl, wenn er gegenüber einem engen Begriff von Interesse, der sich nur auf das thematische Interesse, z.B. in Gestalt einer wissenschaftlichen Arbeit, beschränkt, für einen weiten Begriff von Interesse plädiert. Dies sei notwendig, da das Thema und der Gegenstand der Ichzuwendung nicht immer zusammenfallen. So kann eine plötzliche Affektion in Form eines störenden Lärms vorübergehend zum Gegenstand der Ichzuwendung werden, während die wissenschaftliche Arbeit den Status des übergreifenden Themas beibehält. Ebenso kann der Krach den Interessenverlauf ändern und so zum eigentlichen Thema werden. Interesse kann sich somit sowohl im Akt der Konzentration auf ein bestimmtes Thema ausdrücken als auch in einem weiteren Sinne das passiv geweckte Interesse bzw. die unwillkürliche Zuwendung des Subjektes 57 58 Dieser Begriff wird in Anlehnung an Merleau-Pontys Leibtheorie verwendet. Vgl. MerleauPonty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. Vgl. Hua 34, 75. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 95 umfassen. Das Konzept des Interesses wird in diesem Kontext geradezu mit jeder Form des subjektiven Engagements in der Welt, des Dabei-seins und der damit verbundenen Aktivität in Verbindung gesetzt. Es bezieht sich auf jeden Akt der „vorübergehenden oder dauernden Ichzuwendung, des Dabeiseins (inter-esse) des Ich“59. Nicht ganz eindeutig ist an dieser Stelle, ob sich dieses inter-esse auch auf das vorichliche Tun, das kinästhetische Streben erstreckt. Dafür spricht einerseits, das Husserl auch in diesem Bereich von einer Zuwendung spricht, und andererseits, dass auch die organischen, passiven und leiblichen Faktoren Anteil am ichlichen Geschehen haben und aufgrund ihrer fundierenden Rolle die jeweilige explizite Intentionalität erst ermöglichen. Darüber hinaus besteht zumindest in Bezug auf das leibliche Fungieren jederzeit die Möglichkeit, dass diese sich zu einer expliziten Aufmerksamkeit wandelt oder selbst zum Thema einer solchen wird. Wie in den früheren Erläuterungen von 1904/1905 zeigt sich auch in Erfahrung und Urteil die verbindende und individuierende Rolle der Aufmerksamkeit, indem das Interesse eine qualitative Beziehung zwischen Subjekt und Welt herstellt. Auf der noetischen Seite vollzieht sich so eine gewisse habituelle Identität, die sich aus einem individuellen und inhaltlich bestimmten selektiven Weltbezug, einem speziellen Aufmerksamkeitsstil, bestimmt. Auf der noematischen Seite ergibt sich parallel dazu eine Lebenswelt für das Subjekt. Die subjektive Zuwendung bewirkt somit laut Husserl, „daß das Objekt mein Objekt, Objekt meines Betrachtens ist und daß das Betrachten selbst, das Durchlaufen der Kinästhesen, das motivierte Ablaufenlassen der Erscheinungen mein Durchlaufen ist“60. Trotz der Betonung der Aktivität des Ich im Zusammenhang mit dem Phänomen Aufmerksamkeit wird in diesen Ausführungen auch die passive Dimension der Erfahrung einbezogen. Aktivität bezieht sich nun nicht mehr nur auf eine willentlich geistige Konzentration, sondern umfasst ebenfalls die vorichliche leibliche Zuwendung. Ein weiter Begriff des Interesses ermöglicht es hierbei die Ebenen von Wahrnehmung und Denken in Bezug zu setzen und in ihrer Kontinuität zu erfassen: Eine plötzliche affektiv dominierten Zuwendung könnte somit genauso wie die fokalen Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand oder die geistige Beschäftigung mit einem Thema als verschiedene Ausdrucksweisen desselben Phänomens verstanden werden.61 59 60 61 EU, 93. EU, 90. Die Differenz zwischen einem leiblich-kinästhetischen Streben und einer willentlichen Konzentration ist aus dieser Perspektive lediglich gradueller Natur. Mit Husserl ließe sich demnach für eine Fundierung von höheren mentalen Leistungen in leiblichempfindenden Strukturen argumentieren wie dies etwa der Ansatz der embodied cognition innerhalb der Kognitionswissenschaft tut. Vgl. etwa Varela, Francisco J.; Thompson, Evan T.; Roesch, Eleanor: The embodied mind, Cambridge 1991; Noë, Alva: Action in Perception, Cambridge/London 2004; Gallagher, Shaun: How the Body shapes the mind, Oxford 2005; Thompson, Evan T.: Mind in Life. Cambridge/London 2007. © Ergon Verlag GmbH 96 MAREN WEHRLE Solch ein weiter Begriff der Aufmerksamkeit erlaubt darüber hinaus, den genetischen Zusammenhang von Interesse und Affektion zu thematisieren. Ein solches Verhältnis kann nicht einseitig, entweder im Sinne eines Primats der ichlichen Aktivität bzw. der expliziten Intentionalität, oder im Sinne eines genetischen Vorrangs der Affektion, entschieden werden. Das Konzept ‚Interesse‘ beschränkt sich weder auf die Aktualität des fungierenden Interesses, noch darauf, dass der Inhalt bzw. die Existenz eines solchen Interesses dem Subjekt explizit bewusst ist. In diesem Zusammenhang müssen die habituellen und gegenständlichen Horizonte der gegenwärtigen Aufmerksamkeit mitberücksichtigt werden. Der gegenständliche und thematische Kontext des aktuellen Aufmerksamkeitsfokus beeinflusst maßgeblich was bzw. ob etwas zum Thema wird, welche Intentionen und Antizipationen davon ausgehen und worauf sich zukünftige Aufmerksamkeitsbewegungen richten. Der Gegenstand und sein innerer wie äußerer Horizont unterliegen bei Husserl einer wechselseitigen Bestimmung. Dies gilt gleichermaßen für das jeweilige Thema und sein thematisches Feld, die, wie es A. Gurwitsch beschreibt, ähnlich wie Figur und Grund eine gestalthafte Verbindung eingehen. Wechsel der Aufmerksamkeit vollziehen sich in diesem Sinne innerhalb eines thematischen und gegenständlichen Zusammenhangs und sind deshalb meist nicht als plötzliche Umbrüche, sondern vielmehr als stetige Umstrukturierungsvorgänge zu charakterisieren.62 Diese Umstrukturierungen hängen wiederum eng mit der Interessenlage des Subjekts zusammen. Die jeweilige Einheit des Gesamtinteresses, etwa das Beobachten einer bestimmten Person oder Durchführung eines wissenschaftlichen Projekts, bestimmt dabei, was gerade zum Thema, zum thematischen Feld oder lediglich zum Randbewusstsein gehört. Wieso etwas von Interesse ist bzw. wie im Einzelfall ein Gesamtinteresse motiviert ist, lässt sich wiederum auf die habituellen Horizonte zurückführen. Insbesondere die zumeist passiven Einwirkungen eines Erfahrungs- und Interessenshorizontes und dessen inhaltliche Tendenzen beeinflussen maßgeblich, 62 Vgl. Gurwitsch, Aron: Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich, in: Psychologische Forschungen 12 (1929), 279-381. Vgl. auch Arvidson, Sven P.: Attention in context, in: Gallagher, Shaun; Schmicking, Daniel (Hrsg.): Handbook of phenomenology and cognitive science, Dordrecht/New York/Heidelberg/London 2010, 99-123. Die Wichtigkeit des gegenständlichen Horizontes wird in diesem Beitrag nur am Rande erwähnt, das Hauptaugenmerk liegt im Folgenden auf dem habituellen Horizont. Anzumerken ist hierbei, dass beide Bereiche ineinander spielen und in der alltäglichen Erfahrung nicht oder nur in Einzelfällen zu differenzieren sind. Die gegenständlichen Komponenten der Wahrnehmung müssen bereits in irgendeiner Form aufgefasst sein, um phänomenologisch greifbar zu werden. Diese Auffassung steht aber immer schon in einem zeitlichen Zusammenhang sowie im Kontext vorangegangener Erfahrungen und den daraus resultierenden Antizipationsprozessen, Erwartungen und expliziten Interessen. Was dem Subjekt in Form eines habituellen Horizontes oder der ‚objektiven‘ Umwelt in Gestalt von Reizen oder Gegenständen zugeschrieben werden soll, kann so nicht entschieden werden. Das ‚Innere‘ ist im Verlauf der subjektiven Erfahrung genauso äußerlich wie das ‚Äußere‘ innerlich ist. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 97 was uns zu einem gewissen Zeitpunkt überhaupt affizieren kann. Aufmerksamkeit erscheint infolgedessen sowohl allgemein als präferentielle Struktur subjektiver Wahrnehmung, die sich als praktisches Wahrnehmungsstreben manifestiert, als auch in ihrer jeweiligen inhaltlich-habituellen Ausformung.63 4.2 Horizonte der Aufmerksamkeit: Vorgegebenheit, Affektion und Interesse Mit der Ausbildung einer genetischen Phänomenologie stehen nun nicht mehr die expliziten Formen der Intentionalität im Zentrum des Interesses, sondern deren Grundlegung in den passiven Synthesen des Bewusstseins, wie Zeitlichkeit und Assoziation. Die Aktivität erscheint im Kontext einer sie fundierenden Passivität als sekundär, jede aktive Konstitution setzt eine „vorgebende Passivität“64 voraus. Genetisch betrachtet gewährleistet zunächst die Zeitlichkeit als Urform der passiven Synthesis eine formale Einheit der Empfindungsdaten nach Retention, Jetzt-Moment und Protention. Hinzu kommt die Assoziation, welche einen inhaltlichen Zusammenhang der immanenten Daten nach Ähnlichkeit und Kontrast stiftet. In der genetischen Fundierungsordnung tritt nun nach einer solchen Urkonstitution des Vorgegebenen, die sich nach Husserl in „reiner Passivität“ und „starrer Gesetzlichkeit“ vollzieht, als erste Stufe der Rezeptivität die Affektion auf: „Gegeben kann für mich nur ein Vorgegebenes sein, etwas, das für mich dank einer vorausliegenden Konstitution wahrnehmungsbereit ist oder erfahrungsbereit, was mich affizieren kann als vor der Beachtung schon Daseiendes.“65 Aus der genetischen Perspektive kann das Ich nun nicht mehr willkürlich eine Wahrnehmung herbeiführen, da es auf eine vorangehende Affektion angewiesen ist: „Bewußtseinsmäßig Konstituiertes“ ist für es nur ‚da‘, „sofern es affiziert“.66 Innerhalb eines dynamisierten Bewusstseinskonzeptes kommt der affektiven Dimension, die von Husserl früher nur als Grenzbegriff der Empfindung anhand von hyletischen Daten aufgegriffen wurde, somit erneut eine zentrale Bedeutung zu. Heißt dies, dass der Gegenstand unserer jeweiligen Aufmerksamkeit anstatt von einem gezielten Scheinwerfer des Ich oder einer willentlichen Ausrichtung, von den äußeren Reizen des momentanen Wahrnehmungsfeldes bestimmt wird? Die Antwort kann, wie im vorherigen Punkt ersichtlich wurde, weder auf Seiten des reinen Subjekts noch auf Seiten des Gegenständlichen liegen, da sich aktive und passive Momente sowohl in der einen wie in der anderen Richtung finden lassen. Aus phänomenologischer Sicht ist die Affektion ja gerade kein Ausdruck 63 64 65 66 In letzterem generiert sich unter dem Einfluss der subjektiven Erfahrungsgeschichte, die gleichzeitig in eine intersubjektiven Dimension mit ihren jeweiligen Traditionen und Normen eingebunden ist, eine gewisse Aufmerksamkeitstypik, die das Wahrnehmen, Verhalten und Denken prägt. Hua 1, 112. Hua 39, 10. Hua 11, 162. © Ergon Verlag GmbH 98 MAREN WEHRLE eines im psychologischen Sinne reizbasierten Vorganges, sondern stellt bereits eine leiblich-empfindende Form der Zuwendung dar. Etwas, das mich affiziert, ist zwar noch nicht explizit wahrgenommen, aber in gewisser Weise schon leiblich-sinnlich ‚bemerkt‘ und infolgedessen individualisiert und lokalisiert. Ob etwas mich affizieren kann, hängt dabei von der jeweiligen „affektive[n] Kraft“67 ab, die vom Gegebenen ausgeht. Diese bemisst sich daran, inwiefern sich etwas einzeln oder als homogene Gruppe von seinem Untergrunde abhebt. Die notwendige Differenzierung des Wahrnehmungsfeldes vollzieht sich nach den Kriterien von Kontrast und Homogenität und wird von assoziativen Synthesen geleistet. Zeitliche und assoziative Synthesen reichen aber nicht aus, um eine solche Strukturierung verständlich zu machen. Insbesondere assoziative, d.h. inhaltlich motivierte Synthesen fordern geradezu ein tätiges Subjekt mitsamt einer Erfahrungsgeschichte, mit Interessen und Handlungszielen. Kontrast- und Homogenitätsphänomene, die Husserl als Kriterium für die Bildung von vorgegenständlichen Einheiten und somit einer affektiven Kraft ansetzt, können nur sehr bedingt am Gegebenen selbst festgemacht werden. Ein Kontrast sowie eine Ähnlichkeit ergeben sich immer nur relativ in Bezug auf vorangegangene Sinneseindrücke oder Erfahrungen und stehen im Zusammenhang einer zeitlich und inhaltlich einstimmigen Wahrnehmung. Die Abhebung von affektiven Einheiten, die genetisch den Anfang jeder Gegenstandskonstitution darstellen soll, steht zwangsläufig in einem konkreten subjektiven Erfahrungs- und Interessenzusammenhang. 68 67 68 Vgl. EU, 79. Husserl spricht auch von einem affektiven Anspruch, der die passive Motivationsgrundlage für die Ichaktivität bildet (vgl. EU, 366). Hierbei muss aber die habituelle Wahrnehmungstypik des Subjektes mit einbezogen werden. Der affektive Anspruch ist nicht vor jeder subjektiven Erfahrungstypik angesiedelt, sondern kann sich in der alltäglichen Erfahrung nur wechselseitig zwischen erfahrendem Subjekt und affizierender Welt in einer gemeinsamen Erfahrungssituation ausbilden. Ein in genetischer Hinsicht erster affektiver Anspruch, z.B. eines Neugeborenen, würde mit der angeborenen sinnlichen und leiblichen Beschaffenheit des Menschen korrelieren, die uns zunächst weitgehend undifferenziert für alle äußeren Reize empfänglich macht. Eine strikte Unterscheidung zwischen expliziten, personalen Interessen und impliziten, passiv-leiblichen Interessen soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Rein sinnliche bzw. biologische Dispositionen können nur in Grenzfällen von leiblich-habituellen Aspekten, die auf eine Interaktion von Subjekt und Umwelt zurückweisen, und personalen Habitualitäten, die Husserl als bleibende Überzeugungen bezeichnet, unterschieden werden. Vielmehr soll das Zusammenspiel von passiven und personalen Interessen im Zentrum stehen. Es folgt eine kurze Erläuterung darüber, warum implizit wirkende Interessenshorizonte bereits im Bereich der Affektion maßgeblich sind. Für eine ausführliche Begründung dieses Gedankenganges mitsamt seinen normativen Implikationen, vgl. Wehrle, Die Normativität der Erfahrung. Da Interessen sich nur im Kontext einer Lebenswelt ausbilden, d.h. von vorneherein eine intersubjektive Dimension aufweisen, hat dies auch weitreichende normative Konsequenzen. Die genetisch verstandene Aufmerksamkeit, die allgemein als selektive, präferentielle Struktur verstanden werden kann, leistet bereits auf den untersten Stufen der Wahrnehmung eine Differenzierung der Wahrnehmungsinhalte. Da Aufmerksamkeit in diesem Sinne sowohl auf der passiv-sinnlichen als auch auf der personal-kulturellen Ebene © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 99 a) Vorgegebenheit als genetische Bedingung und inhaltliche Motivation In demselben Maße wie in ‚noetischer‘ Hinsicht jede aktive Konstitution auf passive Synthesen und Affektionen zurückverweist, bedeutet dies auf ‚noematischer‘ Seite, dass das jeweils explizit Gegebene – also dasjenige, was „ich im erfassenden Griff habe, was ich betrachte, was ich expliziere, bestimme, womit ich mich im Gemüt und im sich entschließenden und handelnden Willen beschäftige“69 – eine Sphäre der Vorgegebenheit voraussetzt. Die Bedingungen für eine solche Vorgegebenheit liegen nach Husserl in der zeitlich vorangehenden „Urkonstitution“70, die auf allgemeinen passiven Gesetzmäßigkeiten der Zeitlichkeit und Assoziation beruht. Obwohl jede ‚spätere‘ Konstitution diese zwar formal voraussetzt, indem sie sich auf ein fundierendes Sinnesmaterial bezieht, zeichnet sich die konkrete Sphäre der Vorgegebenheit vor allem durch den „Charakter der Bekanntheit“ aus und verweist insofern schon auf die Leistungen der „Apperzeption“. Das Vorgegebene erscheint von vorneherein „mit dem Sinn des Früheren“ und „Ähnliches“ wird in „ähnlichem Sinne aufgefasst“. Gerade dies zeichnet ja nach Husserl die Leistung der assoziativen Genesis aus, das sie „vor und neben aller […] Aktivität“71 inhaltliche Zusammenhänge schafft. Diese Zusammenhänge sind demnach nicht nur allgemeiner und formaler Natur, sondern Ausdruck eines konkreten, wenn auch passiven Bezugs zur Welt. Die assoziativen bzw. apperzeptiven Vorgänge, die Husserl hier beschreibt, können daher in einem weiten Sinne als eine passiv-habituelle Stufe der Aufmerksamkeit gelten, die aufgrund ihrer integrativen Funktion eine konkrete Vorgegebenheit sowie einen kohärenten Wahrnehmungsverlauf ermöglicht. Auf dieser untersten Stufe der Vorgegebenheit fungieren denn auch nach Husserl die jeweiligen Assoziationsketten, die eine gewisse „Einheitlichkeit der Affektivität“ gegenüber der uns beständig affizierenden Wahrnehmungswelt ausbilden. Dies macht zwar einerseits eine spätere explizite Beschäftigung mit Objekten erst möglich, andererseits offenbart sich in ihr aber eine grundlegende Anonymität der Subjektivität, da diese Prozesse nicht selbst ‚bewusst‘ zugänglich sind. Für Husserl stehen diese passiven Vorgänge deshalb auch noch in den späten Texten zur Lebenswelt in keinerlei Beziehung zum Phänomen der Aufmerksamkeit: „[F]ür das 69 70 71 der Erfahrung wirksam ist, hat dies weitreichende Konsequenzen. Wenn man bedenkt, dass sich die von Husserl festgelegten primären formal-genetischen Prinzipien – Homogenität und Kontrast – nur innerhalb eines subjektiven Interesse- und Handlungszusammenhangs ausdrücken können, kommt man zu dem Schluss, dass sich bereits jede Affektion interessegeleitet vollzieht. In jeder konkreten Erfahrung können somit bereits auf der Stufe der Affektion intersubjektive Normen Eingang finden. Die Affektion stellt sich insofern als Schnittstelle zwischen passiven und personalen sowie individuellen und intersubjektiven bzw. kulturellen Faktoren dar. Innerhalb der lebensweltlichen Horizonte, die unsere Interessen und damit unsere Affektionsbereitschaft modellieren, ist daher eine strikte Unterscheidung zwischen diesen Einflüssen kaum möglich. Hua 39, 10. Hua 39, 10. Hua 39, 10-11. © Ergon Verlag GmbH 100 MAREN WEHRLE Spiel der Aufmerksamkeit“ kommen sie „überhaupt nicht in Betracht“72, da sie nicht nur unbeachtet bleiben, sondern von ihnen außerdem keine Affektionen und Reize auf das aktive Ich ausgehen. Obwohl diese Prozesse nicht selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit sind, müssen sie doch als wichtiger Teil des Gesamtphänomens angesehen werden. Sie zeigen auf der einen Seite, dass sich bereits auf den untersten Stufen eine subjektive Relevanz und Präferenzstruktur in Form von inhaltlichen Assoziationen ausbildet und deuten auf der anderen Seite daraufhin, dass diese Assoziationsstruktur in der konkreten Erfahrung immer schon untrennbar mit höheren Stufen der subjektiven Aktivität und der personalen Interessen verbunden ist. b) Vorgegebenheit als affektiver und leiblicher Horizont Die gesamte Sphäre der Vorgegebenheit stellt nach Husserl unseren allgemeinen Wahrnehmungshorizont, d.h. die Welt dar. Er unterscheidet hierbei nicht zwischen der Vorgegebenheit im genetischen Sinne, d.h. den vorangegangenen passiven Synthesen, und der Vorgegebenheit in Form der Inaktualität, also desjenigen, was sich momentan zwar im aufgefassten Wahrnehmungsfeld befindet, aber aktuell nicht explizit als spezifischer Gegenstand erfasst ist. Ebenso wenig findet sich eine Differenzierung in einen habituellen und einen gegenständlichen Horizont. Ersterer würde passive Erwerbe, leibliche Fähigkeiten und Gewohnheiten sowie personale Interessen und Habitualitäten – in ihrem eigentlichen Sinne als bleibende Geltungen einer vormals aktiven willentlichen Stellungnahme – umfassen, während letzterer sich aus dem Innen- und Außenhorizont sowie thematischen verwandten Kontexten des jeweils bemerkten Gegenstandes zusammensetzt. Im Rahmen dieser Sphäre der Vorgegebenheit kann es nun zu einer Affektion kommen, innerhalb der Wahrnehmung betrifft dies hauptsächlich den gegenständlichen Horizont, da von diesem Reize und Weckungen für eine aktive Zuwendung des Ich ausgehen können. Der habituelle Horizont, der für die bisherige Erfahrungsgeschichte und seine darin erworbenen Kenntnisse und gegenständlichen Bedeutungen steht, kann aber z.B. in Zusammenhang mit der äußeren Wahrnehmung unmittelbar eine Affektion im Sinne einer Erinnerung oder einer bestimmten Vorstellung initiieren. Zugleich nimmt er in Form einer habituellen Wahrnehmungstypik oder eines aktuellen Interesses darauf Einfluss, was uns überhaupt zum gegebenen Zeitpunkt affizieren bzw. ‚wecken‘ kann. Als Vorgegeben kann demnach sowohl das gelten, was momentan nicht aktuell erfasst wird, im Sinne des gegenständlichen Hintergrundes, als auch sämtliches thematisch verwandtes Vorwissen über das gegenwärtig Präsente sowie die aus der bisherigen Erfahrung aktiv oder passiv erworbenen leiblichen Fähigkeiten sowie Sinn-und Geltungsbestände im Ganzen. 72 Hua 39, 24. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 101 Die Sphäre der Vorgegebenheit bezeichnet nun nach Husserl zugleich den affektiven Horizont des Subjekts. Affektion findet dabei in genetischer Reihenfolge zunächst im Rahmen des kinästhetischen Strebens statt und stellt ein erstes leiblich-aktives Erfassen einer vor-gegenständlichen Einheit dar. Aufgrund unserer leiblich-sinnlichen Beschaffenheit befinden wir uns permanent in einer affektiven Verbindung mit der Umwelt. Hier findet eine erste Selektion zwischen relevanten und momentan nicht relevanten Affektionen statt. Dieses leibliche „zurWelt-sein“73, ist nicht durch einen intentionalen Gegenstandsbezug ausgezeichnet, sondern erscheint in Gestalt einer fungierenden und praktischen Intentionalität, die im Kontext einer Erfahrungssituation verstanden werden muss.74 Was bzw. in welchem Maße uns ‚etwas‘ affiziert, und ob es zu einer bleibenden oder nur kurzfristigen Zuwendung kommt, hängt folglich von der jeweiligen Wahrnehmungs- und Handlungssituation, unserer momentanen „Vorhabe“ ab: „Immerzu habe ich etwas vor und habe schon vorher begründete Zielhorizonte, Vorhaben und Vorhabenshorizonte“75. Aus Sicht einer solch praktisch gedachten Situationsintentionalität76 erweist sich der Unterschied zwischen einem passiven Affiziertsein und einem aktiven Dabeisein (inter-esse) als „bloße modale Abwandlung“77. Dieser lässt sich nicht nur genetisch als Übergang einer Passivität in eine Aktivität verstehen, sondern beides muss in der aktuellen Erfahrung notwendig in einem wechselseitigen Verhältnis stehen: Das bloß Affizierende tritt mit der auf sie gerichteten Tätigkeit in einem Gesamtzusammenhang auf, der durch die jeweilige Handlung und die übergreifende Einheit eines Interesses besteht.78 Bei Husserl sind hier thematisch ähnliche, wenn auch nicht ganz so ‚existentialistisch‘ orientierte Ansätze zu finden wie bei der Leibphänomenologie Merleau-Pontys. Merleau-Ponty verbindet in diesem Zusammenhang das gegenwärtige leibliche Engagement, den vorangegangene Erfahrungen mitsamt der gesamten passiven „Vorgeschichte“79 des Leibes sowie mögliche zukünftigen Erfahrungen in einem 73 74 75 76 77 78 79 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 104, 126. Die jeweilige Wahrnehmungssituation ist dabei nicht nur durch meine individuelle Erfahrungsgeschichte, sondern ebenfalls durch intersubjektive Traditionen, Normen und Bedeutungen geprägt. Eine lebensweltliche Situation, in der sich die Affektion als leiblichsinnlicher Kontakt mit der Welt abspielt, ist folglich immer als eine implizit oder explizit mit anderen Subjekten gemeinsame Situation zu charakterisieren. Hua 39, 597. Dieser Gedanke wird, wie man hier sehen kann, nicht erst bei Merleau-Ponty, sondern im Ansatz schon bei Husserl entwickelt. Hua 39, 594. Vgl. Hua 39, 594. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 80. Hiermit spielt Merleau-Ponty auf die faktische Situierung des leiblichen Subjekts in der Welt an. Durch diese sind wir in einen „vorpersonalen Horizont“ (282) eingebettet, der sowohl individuelle Erwerbe und Gewöhnungen, die uns nicht explizit zugänglich sind, als auch „vorbewusste Erfahrungsbereiche“ (253) umfasst wie die eigene Geburt. Darüber hinaus stehen wir durch unsere Geburt in einem geschichtlichen und kulturellen Horizont. Unsere persönliche Existenz erscheint demgemäß als „Übernahme einer Tradition“ (296). © Ergon Verlag GmbH 102 MAREN WEHRLE „intentionalen Bogen“80. Das engagierte leibliche Zur-Welt-sein, das er beschreibt, könnte in diesem Sinne, wie oben Husserls kinästhetisches Streben, als ein leibliches Interesse bezeichnen werden. 4.3 Das Zusammenspiel von Affektion, Interesse und Intentionalität Während oben versucht wurde, verschiedene genetischen Stufen der Aufmerksamkeit und ihre Horizonte deskriptiv zu unterscheiden, soll nun das Ineinander dieser unterschiedlichen Aufmerksamkeitsebenen in den Blick kommen. In der ‚normalen‘ Erfahrung stellt weder die passiv-habituelle Vorgegebenheit noch die spezifisch leibliche Form der Aufmerksamkeit eine vollständig unabhängige Erlebnisschicht dar, sondern diese stehen meist in Zusammenhang mit einer expliziten Handlung sowie personalen bzw. spezifischen Handlungsinteressen. Die jeweilige Tätigkeit hat dabei nicht nur einen affektiven Horizont, sondern ein solcher wird durch dieselbe Handlung erst prozesshaft geweckt. Der affektive Horizont eines Berufsinteresses erweitert sich z.B. im Verlaufe der Erfahrung, so dass neue Relevanzen zu einer Weckung führen können. Das, was im Rahmen dieses Interesses nun relevant ist, verdankt seine „Weckungskraft dem jetzt berufstätigen Ich und seinen Motiven“81. In gleicher Weise kann es zu einem plötzlichen Wechsel der Aufmerksamkeit durch eine Weckung anderer Gegenstände kommen, die für das Berufsinteresse nicht relevant sind. Aber auch diese Form der vermeintlich von außen initiierten Affektion steht zwangsläufig in einem habituellen Erfahrungs- und Interessenzusammenhang: Das Berufsinteresse verliert nun an Aktualität und wird von einem anderen Interesse verdrängt, indem eine „Wahrnehmungsgegebenheit“ mit einer „großen affektiven Kraft“ einbricht. Diese affektive Kraft kommt dem Gegebenen aber nicht aus sich selbst heraus zu, sondern sie verdankt sich wiederum einem anderen Interesse: Sie weckt mich als der ich nicht nur Berufsmensch, sondern zum Beispiel Vater bin. Aber mein väterliches Interesse war nicht aktuell, von ihm ging daher nicht die Kraft der Affektion aus, die mich beim Anblick des eintretenden Kindes alsbald aufmerken lässt und mich zu väterlicher Betätigung motiviert. Mein väterliches Interesse wird nun allererst aktiviert.82 Neben einem solchen Wechsel können aber auch beide Interessen auf unterschiedlichen Aufmerksamkeitsstufen bzw. in unterschiedlicher Intensität ‚wach‘ bleiben, indem man etwa die Aufmerksamkeit verteilt, also die explizite Intentionalität auf die wissenschaftliche Arbeit legt und zugleich in Form einer leiblich-sinnlichen Bereitschaft ein Auge bzw. Ohr auf das schlafende Kind richtet. Die tätigen Interessen zeichnen sich insofern durch ihre „bewegliche[n] Rele80 81 82 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 164. Hua 39, 594. Hua 39, 594. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 103 vanzhorizont[e]“83 aus. Eine subjektive Erfahrung ohne jegliches Interesse ist dagegen nicht vorstellbar, überall zeichnet sich diese durch ihr präferentielles Wesen aus: „Es gibt in der Wachheit (als Korrelat des Schlafes) überhaupt keine absolute Interessenlosigkeit, und was das ‚interesselos verlaufend‘ heißt, ist selbst ein Relevanzphänomen niederster Stufe.“84 Die genetisch notwendige Sphäre der Vorgegebenheit, die zugleich unseren affektiven Horizont ausmacht, kann sich ebenfalls nur in ihrem jeweils individuell bestimmten Charakter manifestieren. Der allgemeine Horizont der Welt, den diese Vorgegebenheit verbürgt, erweist sich demgegenüber sowohl zwischen Subjekten verschiedener Kultur als auch innerhalb der verschiedenen Lebensphasen desselben Subjektes als unterschiedlich. Die jeweilige Vorgegebenheit wandelt sich im Verlaufe der Erfahrung ständig und hat je nachdem eine bestimmte „individuelle Vorgegebenheitsstruktur“85. Diese habituell geprägte Vorgegebenheit bestimmt zusammen mit der aktuellen Tätigkeit und dem übergreifenden Interesse das aktuelle Gegebene (Thema, Vordergrund) und den sich im Verhältnis dazu differenzierenden gegenständlichen Horizont (thematisches Feld, Hintergrund). Aus einer ersten tätig-sinnlichen Erfassung kann sich dann durch eine explizite Zuwendung eine spezifische Gegenstandsbeziehung aufbauen. Zu einer Gegenstandskonstitution gehört aber nach Husserl über eine aktive Zuwendung und der damit verbundenen Objektivierung hinaus noch die „Identifizierung durch Wiedererinnerung“ von „solchem, was schon erfasst war“86. Die explizite Form der Aufmerksamkeit setzt demnach die früheren Stufen schon voraus, da sie zwar eine Synthese darstellt, die sich aufgrund einer Aktivität bildet, aber zugleich auf passive Prozesse der Assoziation verweist: „die ja in den Funktionen der Wiedererinnerung, der Erwartung, der Weckung in Zusammenhängen der sinnlichen Gleichheit, überhaupt in Konfigurationen etc. überall waltet und auch nachher immer ihr Spiel treibt und aus Gegenständen niederer Stufe, solche höherer, aber als Vorgegebenheit schafft“87. In diesem Zusammenhang wird das Ineinander von passiven und aktiven Erfahrungsebenen besonders deutlich: Assoziation, Affektion, Interesse und Intentionalität sind aufgrund der individuellen und präferentiellen Struktur der konkreten subjektiven Erfahrung notwendig ineinander verschlungen. So befindet sich die Affektion, die doch genetisch den Anfang jeglicher Wahrnehmung ausmachen soll, immer im Kontext einer individuellen Vorgegebenheitsstruktur und explizi- 83 84 85 86 87 Hua 39, 596. Hua 39, 596. Hua 39, 53. Die vorgegebene Welt war demnach „in meiner Kindheit eine andere als jetzt, und sie wandelt sich als bestimmte Vorgegebenheitsstruktur ständig“. Husserl nimmt an dieser Stelle ebenfalls die verschiedenen Vorgegebenheitsstrukturen eins „Primitiven“ und eines europäischen „Wissenschaftlers“ als Beispiel. Vgl. Hua 39, 53. Hua 39, 34-35. Hua 39, 35. © Ergon Verlag GmbH 104 MAREN WEHRLE ten Handlungsinteressen, während die explizite Intentionalität, die aus eidetischer Perspektive die formale Voraussetzung jedes Interesses darstellen soll, auf assoziative und apperzeptive Strukturen angewiesen ist, die in der Erfahrung „rein in Passivität“ ihren „Niederschlag“ finden und so „in die Habitualität bzw. in die mögliche Identifikation des Gegenstandes als Gegenstandes“88 eingehen. In Bezug auf die eidetisch-statische Methode zeigt dies auf der einen Seite, dass sich aus dem lebendigen Erfahrungszusammenhang nur schwer einzeln abgegrenzte Strukturen und Funktionen isolieren lassen. Auf der anderen Seite hat die genetische Methode ebensolche Probleme, wenn sie durch ein Rückschlussverfahren versucht, die verschiedenen fundierenden Schichten und ihre genetische Reihenfolge in der Deskription strikt auseinander zu halten. Sowohl ein ‚Bewusstseinsstrukturalismus‘ im eidetischen Sinne als auch eine wesensmäßige genetische Betrachtung der Subjektivität ist auf die gegenwärtig anschauliche bzw. gelebte Erfahrung angewiesen, die den Ausgangspunkt und die Motivation jeder philosophischen Distanzierung, der Reflexion wie auch der phänomenologischen epoché, bildet. Hierfür muss nicht nur das aktuelle Erlebnis, sei es passiv, leiblich oder explizit, berücksichtigt werden, sondern die gesamte Erfahrungssituation mitsamt dem habituellen und gegenständlichen Horizonten des konkreten Erfahrungssubjektes. Die hierbei vorausgesetzte Vorgegebenheit der Welt nimmt daher die Gestalt einer individuellen Lebenswelt an. 5. Fazit: Erfahrung und Aufmerksamkeit Im Anschluss an die vorangegangenen Analysen erweist sich Aufmerksamkeit nicht mehr nur als eine Modifikation oder eine Verbesserung der Wahrnehmung in Form einer hinzukommenden Intensität oder Klarheit, sondern vielmehr als grundlegende präferentielle Struktur, die das Wesen jeder subjektiven Erfahrung ausmacht. Bereits auf den untersten Stufen ermöglicht sie durch assoziative Prozesse eine inhaltliche Integration der Erlebnisse und nimmt zugleich eine selektive Differenzierung des Gegebenen vor; sie bestimmt damit dasjenige, was im engeren Sinne unsere gegenwärtige Wahrnehmung und im weiteren Sinne unsere Lebenswelt und unsere Person habituell ausmacht. Im aktuellen Akt der Aufmerksamkeit, sei er durch fungierenden oder expliziten intentionalen Bezug auf das Gegebene ausgezeichnet, findet demnach eine Unterscheidung zwischen aktuellen und inaktuellen Bewusstseinsinhalten, Vorder- und Hintergrundbewusstsein statt. Darüber hinaus ist das diesbezüglich in unterschiedlicher Qualität Gegebene eingebettet in eine Sphäre der Vorgegebenheit. Hierbei muss zwischen der Vorgegebenheit im genetischen Sinne unterschieden werden, die alles einbezieht, was der aktuellen Wahrnehmung allgemein fundierend und als konkrete Motivations- 88 Hua 39, 35. © Ergon Verlag GmbH INTENTIONALITÄT, INTERESSE, AFFEKTION 105 struktur vorangehen muss, und einer Vorgegebenheit, die alles umfasst, was sich während des Aufmerksamkeitsaktes gegenständlich im Hintergrund befindet. Da Aufmerksamkeit aber meist nicht in Gestalt eines diskreten Aktes, der genau einen Gegenstand zum Thema hat, auftritt, sondern nur innerhalb eines zeitlichen Wahrnehmungs- und Handlungszusammenhangs, muss diese Unterscheidung schematisch bleiben. Hinzu kommt das Ineinander von den skizzierten passiven, leiblichen, personalen und expliziten Aufmerksamkeitsstufen, in denen sich ein solcher Bezug ausdrücken kann. Das so lebensweltlich-situativ verstandene Aufmerksamkeitsphänomen umfasst aufgrund seines zeitlichen und horizonthaften Charakters immer mehr als das, was wir gegenwärtig deskriptiv erfassen können. Das, was dichotomisch als passiv oder aktiv, aktuell oder inaktuell, gegeben oder vorgegeben, als explizit bewusst oder unbewusst, statisch oder genetisch bestimmt wird, hängt von der jeweiligen Untersuchungsperspektive ab und verweist daher wiederum auf die betreffenden wissenschaftlichen Interessen. Im Hinblick auf eine ideale ‚Objektivität‘ der Welt beinhaltet die subjektive Aufmerksamkeit insofern immer weniger als das, was man aus einer ‚Vogelperspektive‘ (eigentlich) ‚sehen‘ sollte. Auch in phänomenologischer Hinsicht steht das erfahrende Subjekt immer in einem Interessenshorizont, die wahrgenommene (Lebens)Welt erweist sich damit nicht als objektiv, sondern als subjektives bzw. intersubjektives Relevanzphänomen: Das jeweils Erfahrene hat den Charakter des Anrufenden, des Reize auf das Ich Übenden […], aber der Anruf verhallt als das nicht im aktuellen Interesse stehende Ich bzw. nicht sein Interesse angehend.89 In Anbetracht dieser Überlegungen muss Aufmerksamkeit in die phänomenologische Bestimmung jeder Erfahrung integriert werden. Wie gezeigt wurde, spielt sie bereits auf den untersten genetischen Ebenen eine integrative und selektive Rolle, indem sie zeitlich vorher und zeitlich nachkommende Inhalte zu einer inhaltlichen und damit (vor)personalen Einheit verbindet. Gleichzeitig verknüpfen sich im aktuellen Aufmerksamkeitsgeschehen passive und aktive sowie kinästhetische, rezeptive und explizierende Bewusstseinsvorgänge zu einer Erlebniseinheit. Zu einer Wesensbestimmung der Erfahrung gehört daher nicht bloß ein formaler Selbstbezug bzw. ein „minimal self“ – das nach Dan Zahavi die Erfahrung als meine eigene im Gegensatz zur derjenigen eines Anderen ausweist90 – sondern zugleich ihre präferentielle Natur, d.h. eine minimale inhaltliche Referenz.91 89 90 Hua 15, 462. Hierbei handelt es sich um einen unmittelbaren, vorreflexiven Selbstbezug bzw. ein Selbstbewusstsein (self-awareness), das jeder Erfahrung inhärent ist. Diese ,quality of mineness‘, die jede Erfahrung notwendig begleitet, wird als rein formales und noetisches Moment angesehen. Sie gilt als Unterscheidungskriterium für meine Erfahrung im Gegensatz zur Erfahrung eines Anderen und damit gleichzeitig als Voraussetzung und Ausgangspunkt jeder Fremderfahrung (Einfühlung). Vgl. Zahavi, Dan: Self-awareness and alterity. 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